Das Licht des römischen Rechts

Kardinal Alfredo Ottaviani – Das Licht des christlichen Roms im Recht

Von Giuseppe Brienza*

Am 6. August vor 45 Jahren zelebrierte Johannes Paul II. im feierlichen Rahmen der vatikanischen Basilika die Totenmesse für Kardinal Alfredo Ottaviani (1890–1979), der drei Tage zuvor im Alter von 88 Jahren verstorben war.

„Er“, so der polnische Papst in seiner Predigt, „war ein großer Priester, der sich durch gläubige Frömmigkeit auszeichnete, beispielhaft treu in seinem Dienst an der Heiligen Kirche und am Apostolischen Stuhl, umsichtig in seinem Amt und in der Ausübung der christlichen Nächstenliebe. Und zugleich war er ein römischer Priester, das heißt, er war mit jenem typischen, vielleicht nicht leicht zu definierenden Geist ausgestattet, den die in Rom Geborenen fast von Geburt an besitzen und der sich in einer besonderen Verbundenheit mit Petrus und dem Glauben Petri und ebenso in einer ausgeprägten Sensibilität für das, was die Kirche Petri ist und tut und tun muß, ausdrückt“.

Kardinal Ottaviani, so fügte Johannes Paul II. hinzu, habe sich immer durch „Konsequenz, Hingabe und Gehorsam“ ausgezeichnet. Als Substitut im Staatssekretariat, dann als Assessor, Pro-Sekretär, Pro-Präfekt und schließlich Präfekt der damaligen Kongregation des Heiligen Offiziums, als Prälat, Bischof und Kardinal“. Als Präfekt des Heiligen Offiziums, so der Papst abschließend, verteidigte dieser unvergeßliche Kardinal die katholische Orthodoxie als das „unveräußerliche Erbe“ der Kirche.

Der aus Trastevere stammende Römer Alfredo Ottaviani wurde am 18. März 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, zum Priester geweiht. Ab 1922 arbeitete er an der Seite von Papst Pius XI. an der Kurie und bekleidete verschiedene Positionen im Staatssekretariat, bis er 1953 zum Sekretär des Heiligen Offiziums, wie seit 1602 der Leiter dieser Behörde hieß, und Kardinal der Heiligen Römischen Kirche befördert wurde. Im Jahr 1962 wurde er von Johannes XXIII. zum Erzbischof geweiht. Mit der Kurienreform wurde er 1965 erster Präfekt der Glaubenskongregation, wie das Heilige Offizium umbenannt wurde. 1968 schied er aus dem Dienst und wurde vom kroatischen Kardinal Franjo Šeper (1905–1981) abgelöst.

Der Verlag Fiducia hat soeben Ottavianis Aufsatz „Luce di Roma cristiana nel diritto“ („Das Licht des christlichen Roms im Recht“) neu aufgelegt, das ursprünglich vom Vatikanverlag 1943 veröffentlicht wurde, zu einer Zeit, als alle juristischen und moralischen Institutionen am Rande des Zerfalls zu stehen schienen. Es handelt sich zweifellos um ein Werk, dem man heute, wie Bischof Giuseppe Sciacca, ein hervorragender Kanonist, der lange Zeit Sekretär des Obersten Gerichtshofs der Apostolischen Signatur war und seit 2022 Leiter des Arbeitsamts des Apostolischen Stuhls (ULSA) ist, im Vorwort zu Recht anmerkt, „sein Alter ansieht und das dennoch die Frische eines prägnanten und ehrlichen Ansatzes zu Themen wie den Rechten der Ungeborenen, der natürlichen und christlichen Ehe, der Freiheit und der Würde der Person usw. bewahrt hat“ (S. 7).

Das Licht des christlichen Roms im Recht“ (Rom 2024, 68 Seiten, € 10), kann aufgrund seiner Entstehungsgeschichte (es handelt sich um die erweiterte Fassung eines 1933 von Ottaviani am Institut für Römische Studien gehaltenen Vortrags) und seiner Kürze sicherlich keine systematische Behandlung des Themas bieten. Dennoch ist der Text in der Lage, das prägnante Denken und die universellen Kategorien eines feinen Juristen wie Ottaviani widerzuspiegeln, der später ein grundlegendes Werk zum Kirchenrecht mit dem Titel „Institutiones iuris publici ecclesiastici“ (Typis Polyglottis Vaticanis, Vatikanstadt 1957–1960, 2 Bände) vorlegte.

Der jetzt vom Verlag Fiducia neu aufgelegte Aufsatz stammt, wie erwähnt, aus dem Jahr 1943, als Ottaviani noch nicht Kardinal war, und zeigt vor allem die Klarheit und den Mut eines großen Verteidigers der Tradition und der Rechte der Kirche. Die Grundthese lautet, daß das alte Rom mit dem Untergang des Römischen Reiches nicht seine erhabene Bestimmung verloren habe, sondern mit der Übernahme des Papsttums und der katholischen Religion auf eine höhere Ebene gehoben wurde. Im Jahr 476, dem Jahr der Absetzung des letzten weströmischen Kaisers, kam es nicht einfach zu einer „Substitution“ zwischen zwei Mächten, der kaiserlichen und der päpstlichen, sondern zu einem Aufstieg auf eine höhere Ebene, mit dem die verschiedenen Aspekte, wie Recht, Kultur, Liturgie usw., in der neuen Situation harmonisiert wurden.

Der Text von Kardinal Ottaviani beschreibt diese Kontinuität und das durch die Vorsehung bestimmte Schicksal, das das heidnische Rom und das christliche Rom fast miteinander vereint. In der Tat argumentiert der damalige Monsignore, daß die Katholizität das Römische Reich vervollkommnet und nicht zerstört hat. In ersten Kapitel des Werkes behandelt er insbesondere die Gegensätze zwischen dem Christentum und dem heidnischen Rom in den ersten drei Jahrhunderten und die späteren Kontakte zwischen den beiden Gebilden, insbesondere im Hinblick auf den positiven Einfluß der katholischen Lehre auf das antike römische Recht (S. 15–24).

In zweiten Kapitel veranschaulicht Ottaviani die Grundlagen des gemeinsamen Rechts („gemeinsam“ für die Kirche und das alte Rom), das dem von germanischen Völkern überrollten antiken Rom durch die Katholizität verliehen wurde, die dank ihres übernatürlichen Lichts das römische Element mit der germanischen Kraft zu vereinen vermochte (S. 25–30). Im dritten Kapitel, dem umfangreichsten des Buches, wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Katholizität und der widerstrebenden Moderne gestellt, die sich säkularistisch dem Einfluß des Evangeliums entziehen will (S. 26–53). Im letzten und vierten Kapitel, das der Autor 1943 hinzufügte, beschreibt er, wie die Katholizität nach dem Zweiten Weltkrieg die rechtliche Zivilisation gemäß den Richtlinien des Lehramtes von Pius XII. hätte prägen sollen (S. 54–62). Dies ist der interessanteste und aktuellste Teil des Buches, denn bekanntlich wurden die päpstlichen Richtlinien von der Gesetzgebung und der Politik aller europäischen Länder, mit der teilweisen Ausnahme von Francos Spanien und Salazars Portugal, nicht beachtet und ihnen schließlich sogar widersprochen.

Dabei war der ehrwürdige Eugenio Pacelli klar und deutlich, als er in seiner Radiobotschaft zu Weihnachten 1941 erklärte: „O christliches Rom, das Blut Christi ist dein Leben: Durch dieses Blut bist du groß, und du erleuchtest mit deiner Größe sogar die Ruinen deiner heidnischen Größe, und du reinigst und weihst die Kodizes der juristischen Weisheit der Prätoren und Cäsaren. Du bist die Mutter einer höheren Gerechtigkeit. Du bist der Leuchtturm der Zivilisation, und das zivilisierte Europa und die Welt verdanken dir das Sakralste und Heiligste, das Weiseste und Ehrlichste, das die Völker erhebt und ihre Geschichte schön macht“ (Acta Apostolicae Sedis, Anm. XXXIV, S. 16–18 und 20). Das freimaurerische, christdemokratische und sozialistische Europa hingegen versuchte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit allen Mitteln, je nach Situation das Licht des christlichen Roms zu zerstören oder sich ihm zu entziehen. Auf diese Weise wurde die politische und rechtliche Macht vom Gemeinwohl und von den Bürgern auf den persönlichen Vorteil einiger weniger und/oder auf die grenzenlosen Machtbestrebungen kleiner Lobbys oder Sekten, wenn nicht gar auf außereuropäische Staaten und Wirtschafts- und Finanzgruppen ausgerichtet. Mit der Verabschiedung von Gesetzen, die offen gegen das natürliche und christliche Recht verstoßen, wie z. B. Abtreibung, Scheidung, Drogenfreigabe, Prostitution und schließlich Euthanasie, haben die europäischen Institutionen, national und übernational, die nur formal demokratisch geblieben sind, den (fast) letzten Schritt getan, um die politische Autorität in eine Tyrannei zu verwandeln.

*Giuseppe Brienza, geboren 1972 in Neapel, ist freier Publizist; er promovierte in Politikwissenschaften an der römischen Universität La Sapienza; bis 2020 war er für die Kulturseiten des Corriere del Sud verantwortlich, dann Chefredakteur der von ihm mitgegründeten Internetseite Informazione Cattolica; er schreibt u. a. für Il Borghese, Catholic Studies, Formiche, Daily Cross, Corrispondenza Romana und gestaltet eine Sendung auf Radio Mater zu aktuellen Fragen; Autor von 16 Büchern.

Quelle: katholisches, Übersetzung: G. Nardi Bild: Petersdom von Jan Zasiedatel

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