Erst zehn Jahre nach Beginn der Missbrauchsdebatte in Deutschland legen die katholischen Ordensgemeinschaften Zahlen vor. Insgesamt werden 654 Ordensmitglieder des sexuellen Missbrauchs beschuldigt.
Bei den katholischen Ordensgemeinschaften haben sich rund 1400 Personen gemeldet, die nach eigenen Angaben von Ordensleuten sexuell missbraucht wurden. Das geht aus einer Umfrage der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) hervor, die am Mittwoch veröffentlicht wurde. „Ja, Brüder und Schwestern unserer Gemeinschaften haben sexuellen Missbrauch in seinen verschiedenen Formen verübt“, sagte die DOK-Vorsitzende Schwester Katharina Kluitmann bei der Vorstellung der Ergebnisse.
Nicht nur diese Taten hätten „unsägliches Leid“ über die Betroffenen gebracht, sagte Kluitmann. Auch der Umgang mit Betroffenen und ihren Berichten habe Menschen abermals verletzt. „Wir bedauern das sehr und erkennen unser Versagen erneut an.“ Mit stockender Stimme sagte die Ordensschwester: „Wir sind vor allem den Betroffenen dankbar.“ Sie hätten unbequeme Fragen gestellt, und auf diese Kritik sei man angewiesen.
Die Vorwürfe beziehen sich auf Grenzverletzungen, Übergriffe und sexuellen Missbrauch im engeren Sinne. Die Ergebnisse der Mitgliederbefragung erheben der DOK zufolge keinen Anspruch auf Repräsentativität, vielmehr sei es das Anliegen gewesen, erste Informationen zu gewinnen. Für die Befragung ihrer Mitglieder schickte die DOK Ende 2019 Fragebögen an die Ordensgemeinschaften und Kongregationen. Insgesamt wurden 392 Gemeinschaften angeschrieben, 291 sandten auswertbare Fragebögen zurück.
Orden führten viel Heime, Internate und Schulen
Ein Drittel der Gemeinschaften gab an, mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert worden zu sein. Dabei spielte keine Rolle, ob die Vorwürfe als plausibel eingestuft wurden oder nicht. Zudem wurde in der Umfrage der Zeitraum, auf den sich die Vorwürfe beziehen, nicht eingegrenzt. Gefragt wurde unter anderem danach, ob Missbrauchsvorwürfe bekannt seien, die sich auf Minderjährige oder erwachsene Schutzbefohlene bezögen.
Mit der MHG-Studie könne die Mitgliederbefragung „in keiner Weise“ verglichen werden, sagte Kluitmann. Diese von den Bischöfen in Auftrag gegebene Studie war 2018 veröffentlicht worden und hatte sexuellen Missbrauch durch Kleriker in Diözesen untersucht. Die MHG-Studie erfasste also, was im Verantwortungsbereich von Bischöfen geschah, nicht aber, was etwa in Heimen, Internaten und Schulen vor sich ging, bei denen ein Höherer Oberer einer Ordensgemeinschaft die rechtliche Letztverantwortung trug.
Belastbare Zahlen über das Ausmaß von sexuellem Missbrauch durch Ordensleute liefert die Mitgliederbefragung der DOK nicht. Zumal Betroffene sich in aller Regel von sich aus an die Ordensgemeinschaften gewandt haben dürften. Kluitmann selbst bezeichnete die Ergebnisse nur als weiteren Schritt, der zeige, „dass noch viel Arbeit vor uns liegt“. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, wenn man in Betracht zieht, dass etwa in den fünfziger Jahren mehr als hunderttausend Ordensleute in Deutschland wirkten; heute sind es etwa 17.000.
Auffällig ist, dass knapp 70 Prozent der Männergemeinschaften mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert wurden und nur gut 20 Prozent der Frauengemeinschaften. Insgesamt wurden 654 Ordensmitglieder beschuldigt. Die meisten sind bereits verstorben, einige gehören den Gemeinschaften nicht mehr an. 95 Beschuldigte leben nach wie vor in Ordenshäusern.
Betroffene fordern unabhängige Untersuchungskommission
Der Sprecher der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“, Matthias Katsch, sprach mit Blick auf die Zahlen und ihre Veröffentlichung zehn Jahre nach Beginn der Missbrauchsdebatte von einem „Skandal in mehrfacher Hinsicht“. „Diese Gemeinschaften, in denen Nonnen und Mönche, Priester und Brüder zusammenleben, betrieben und betreiben in Deutschland dutzende Schulen, Internate, Heime und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe“, so Katsch.
Seine Initiative fordert, dass alle Aktenbestände der Ordensgemeinschaften jetzt den Staatsanwaltschaften zur Verfügung gestellt werden müssten, sofern es einen Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch durch Angehörige dieser Gemeinschaften gebe. Die DOK empfiehlt ihren Mitgliedern, entsprechende Vorgänge „stets durch die Staatsanwaltschaft überprüfen zu lassen“. Zudem will Katsch, dass der Bundestag eine unabhängige Untersuchungskommission einsetzt. Die Aufklärung dürfe nicht den „Organisationen der Täter“ überlassen werden.
Ein Großteil der Ordensgemeinschaften steht bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs noch am Anfang. Dabei war es ein Ordensmann, der vor zehn Jahren die Missbrauchsdebatte in Deutschland anstieß. Damals schrieb der Jesuit Klaus Mertes ehemaligen Schülern des Canisius-Kollegs in Berlin einen Brief, in dem er das Thema offen ansprach. Kluitmann sagt, es müsse eine Aufarbeitung geben, „die man als unabhängig bezeichnen kann“, ohne die Gemeinschaften dadurch aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Aufarbeitung meine dabei mehr als die wissenschaftliche Auseinandersetzung, schließe diese aber mit ein.
Eine unabhängige Aufarbeitung haben auch schon die Bischöfe für ihren Verantwortungsbereich versprochen. Dazu legten sie im April eine „gemeinsame Erklärung“ mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, vor. Die DOK gehörte nicht zu den Unterzeichnern, obwohl darüber verhandelt worden war. Derzeit liefen Gespräche mit dem Unabhängigen Beauftragten, heißt es seitens der DOK.
Bald bis zu 50.000 Euro Schmerzensgeld?
In der Zeitschrift „Herder Korrespondenz“ zog Klaus Mertes jüngst in Zweifel, dass die in der „Gemeinsamen Erklärung“ formulierten Kriterien und Standards geeignet seien, eine unabhängige Aufarbeitung zu gewährleisten. Er kritisierte, dass die Zusammensetzung der Kommissionen, die mit der Aufarbeitung betraut werden sollen, in letzter Verantwortung durch die Bischöfe selbst erfolge. Mertes fordert eine nicht-kirchliche Kommission, der in der Öffentlichkeit anerkannte Persönlichkeiten und führende Experten angehören müssten. Zudem sei anzustreben, dass sich andere im Kinder- und Jugendbereich aktive Träger wie etwa der Olympische Sportbund einem solchen Prozess auf Grund von Selbstbindung anschlössen.
Ob wenigstens die Ordensgemeinschaften Mertes´ Vorschlag aufgreifen und die „Unabhängigkeit“ der Aufarbeitung sicherstellen wollen, steht nicht fest. Im Herbst werde es einen „Auftaktworkshop“ geben, um dieser Frage nachzugehen, hieß es bei der Vorstellung der Befragung. Daran soll auch ein Referent des Unabhängigen Beauftragten und eine Person aus dem Kreis der Betroffenen teilnehmen.
Mit Blick auf den wissenschaftlichen Teil der künftigen Aufarbeitung dämpfte die DOK-Vorsitzende Kluitmann die Erwartung, dass es eine umfassende Studie für alle Ordensgemeinschaften geben könne. Das sei nicht sinnvoll, sagte sie. Die DOK empfiehlt Einzelstudien oder Studien zu Gemeinschaften ähnlicher Art.
Eine große Herausforderung sind die Schmerzensgeldregelungen. Von den in der Umfrage aufgeführten Betroffenen erhielt bislang die Hälfte sogenannte Zahlungen in Anerkennung des Leids. Gründe für nicht geleistete Zahlungen wurden nicht erhoben. In einer Fußnote der DOK-Mitgliederbefragung ist vermerkt, dass die Betroffenen, an die Zahlungen geleistet wurden, im Schnitt rund 5500 Euro erhielten.
Zwar können Betroffene bereits seit 2011 entsprechende Zahlungen bei einer Zentralen Koordinierungsstelle der Bischofskonferenz beantragen, doch gibt es Kritik am Verfahren und an der Höhe der Leistungen.
Die Bischöfe überarbeiten derzeit ihre Regelungen. Die DOK ist nach eigenen Angaben im „intensiven Austausch“ mit der Deutschen Bischofskonfefenz, um das bisherige Verfahren weiter zu entwickeln. Im Frühjahr hatten die Bischöfe beschlossen, dass Zahlungen sich künftig an den in Deutschland üblichen Schmerzensgeld-Sätzen orientieren sollen. Weitere Festlegungen sind von der Vollversammlung der Bischofskonferenz Ende September zu erwarten. Im Gespräch sind konkrete Summen in einem Umfang zwischen 5000 und 50.000 Euro. Das Erzbistum Freiburg und das Bistum Regensburg gehen jedoch eigene Wege, im Bistum Regensburg können Betroffene sexueller Gewalt bereits seit Juli Leistungen von bis zu 50.000 Euro erhalten.
„Alle Seiten haben ein Interesse an einer möglichst einheitlichen Regelung im Bereich der Kirche“, heißt es von der DOK. Generell wollen die Bischöfe es den Bistümern überlassen, wie sie das Geld aufbringen. Um zu gewährleisten, dass alle Betroffenen Leistungen erhalten, ist eine „solidarische Komponente“ vorgesehen. Auf die setzen vor allem die Ordensgemeinschaften, von denen einige wenig Geld und kaum noch Mitglieder haben oder überaltert sind.
Auch bei der Präventionsarbeit haben viele Orden noch immer Nachholbedarf. 168 Gemeinschaften, die an der Befragung teilnahmen, haben nach Angaben der DOK keinen Präventionsbeauftragten. Das Gremium fordert seine Mitglieder auf, unabhängige Ansprechpartner und Präventionsbeauftragte zu ernennen sowie entsprechende Rahmenordnungen zur Prävention umzusetzen. Kluitmann erinnerte daran, dass der DOK nur eine subsidiäre Funktion zukomme. Sie sei darauf angewiesen, „dass die Gemeinschaften ihren Teil tun“.
Quelle: faz.net, T. Schrörs Bild: faz.net (Screenshot)