Putins heiliger Krieg

Putin nutzt die Orthodoxe Kirche zur religiösen Untermauerung seiner Macht – hier 2018 mit Kyrill I.
(Foto: picture alliance/dpa)

Ein Motiv für den Angriffskrieg gegen die Ukraine ist in Putins Propaganda die Verteidigung des orthodoxen Glaubens. Ob der russische Präsident dieses Narrativ selbst glaubt, ist dabei unerheblich.

Viel wird gegenwärtig spekuliert über die Motive und Ideen Wladimir Putins für den Überfall auf die Ukraine. Was treibt den russischen Präsidenten dazu, einen blutigen Angriffskrieg gegen ein unabhängiges Nachbarland anzuordnen, Russland damit international zu isolieren und eine neue Weltordnung anzustreben?

Die Fachwelt ist sich weitgehend einig, dass der Machthaber im Kreml sein politisches Handeln aus einer ideologisch verfestigten Gedankenwelt ableitet, deren Kernelemente ein geistig-kultureller Gegenentwurf zum Westen und die Errichtung eines neo-imperialen Reiches sind. Ein wichtiges, aber oft wenig vertieftes und teilweise missverstandenes Element dieser Gedankenwelt sind Bezüge zum Christentum und zur Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche. Wie sind diese Bezüge einzuordnen und welche Funktion haben sie bei der Rechtfertigung der militärischen Aggression gegen die Ukraine?

Krieg für das heilige Russland

Gespeist werden diese religiösen Rechtfertigungsbezüge von der Vorstellung einer spirituellen Einheit des (groß)russischen Raumes. Historischer Bezugspunkt ist dabei stets der Verweis auf das mittelalterliche Bündnis slawischer Fürstentümer, die „Kiewer Rus“, welches in der russischen Historiographie nicht nur als direkter Vorläufer des heutigen Russlands, sondern auch als Ursprungsort der Russisch-Orthodoxen Kirche beschrieben wird. Deren aktuelles Oberhaupt Kyrill I., dessen vollständiger Titel „Patriarch von Moskau und der ganzen Rus“ lautet, proklamiert Russland, Belarus und die Ukraine bis heute als die „Heilige Rus“ und damit als spirituelle Einheit. Putin griff dieses Weltbild in seiner Rede an die Nation am 21. Februar wörtlich auf, indem er die Ukraine zum integralen Bestandteil des geschichtlichen, kulturellen und spirituellen Raums Russlands erklärte. Die Krim bezeichnete er bereits 2014 als „uns heilig wie der Tempelberg in Jerusalem den Juden und Muslimen heilig ist“.

Mit dieser Vorstellung wird oft die Denkfigur von Moskau als „Drittem Rom“ verbunden, nach dem zweiten Rom, Konstantinopel. Diese im 16. Jahrhundert geprägte Idee stellte ursprünglich den Versuch einer heilsgeschichtlichen Aufwertung des neuen russischen Reiches dar und wurde erst im 19. Jahrhundert imperialistisch umgedeutet. Bis heute ist die inner-russische Wirkung dieses Narrativs umstritten. Moskau als „Drittes Rom“ wurde von der Propaganda des russischen Staatsapparats im aktuellen Konflikt zwar nicht direkt genutzt und ist innerhalb der Bevölkerung Russlands auch nicht sehr verbreitet. Trotzdem scheinen Motive der umgedeuteten Idee vom „Dritten Rom“ immer wieder in den Rechtfertigungszusammenhängen der russischen Führung durch und werden zur religiösen Untermauerung weltlicher Machtansprüche genutzt. Vor allem die territoriale Gleichsetzung von Moskau und der „Heiligen Rus“ sowie die damit einhergehende Aufwertung des russischen Großreichs begründen in den Augen Putins den Anspruch auf unabhängige Nachbarstaaten und dienen seiner Propaganda als Abgrenzung von äußeren Feinden des russisch-orthodoxen Christentums.

Krieg zum Schutz verfolgter Christen

Das Motiv des Kampfes gegen eine vorgebliche Verfolgung und Unterdrückung russisch-orthodoxer Christen durch vom säkularen Westen inspirierte oder gesteuerte Mächte ist das zweite religiös aufgeladene Rechtfertigungselement russischer Propaganda im Ukraine-Krieg. In der Vergangenheit wurden bereits Einsätze des russischen Militärs in Syrien und anderen Staaten, vor allem aber die Anerkennung der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk, mit einer Unterdrückung und Verfolgung von Christen begründet. Auch im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Ukraine spricht Kyrill I. von „dunklen und feindlichen äußeren Kräften“ und „Kräften des Bösen“, welche die Einheit der Gläubigen in Frage stellten. Putin behauptet, in Kiew würden „Gewaltakte gegen die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats“ vorbereitet.

Krieg für die Einheit der Kirche

Damit bedient sich Putin eines dritten Rechtfertigungsmusters mit religiösen Bezügen. 2019 hatte sich die „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ (OKU) als Konkurrenz zur bislang dominierenden „Ukrainisch Orthodoxen Kirche“ (UOK), die zum Moskauer Patriarchat gehört, gegründet. Die Gründung der OKU, die damit einhergehende Polemik vom „Fall des Dritten Roms“ und eine von der Regierung Poroschenko (2014-2019) geplante rechtliche Privilegierung gegenüber der UOK boten Anlass für die russische Erzählung eines Angriffs auf die Russisch-Orthodoxe Kirche. Da das Patriarchat von Konstantinopel der OKU die Autokephalie (Unabhängigkeit) gewährte, brach die Russisch-Orthodoxe Kirche die Beziehungen zum Patriarchat von Konstantinopel ab. Seitdem geht ein Riss durch die Gesamtorthodoxie. Die ukrainische Regierung wird von der russischen Führung in Folge als Kirchenspalter und Feind des wahren Glaubens dargestellt. Wie wenig dies mit der Realität in der Ukraine zu tun hat, zeigt sich darin, dass sich beide Kirchen, OKU und UOK, gegen die russische Invasion positionierten und die UOK Kyrill I. sogar aufforderte, sich bei Putin dafür einzusetzen, „damit das brudermörderische Blutvergießen auf ukrainischem Boden aufhört“.

Der britische Philosoph und jüdische Theologe Jonathan Sacks schreibt in seinem Buch „Not in God’s Name“, dass es bei Kriegen fast immer um Macht, Land und Ruhm, um weltliche oder profane Dinge also, gehe. Da aber Menschen nichts mehr vereine als der Glaube, werde die Religion oft „zum Kriegsdienst einberufen“. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist hier keine Ausnahme. Es ist im Kern irrelevant, ob Putin tatsächlich glaubt, der Überfall auf die Ukraine sei eine heilige Sache. Entscheidend ist, dass er im Mythos vom heiligen Großrussland, im Kampf gegen eine vermeintliche Verfolgung von Glaubensbrüdern und in der angeblichen Sorge um die Einheit der Kirche gewichtige Argumente für eine Legitimation seines Angriffskrieges sieht und diese auch so verwendet. Die westliche Staatengemeinschaft sollte dies nicht nur interessiert zur Kenntnis nehmen, sondern auch an theologischen und historischen Gegennarrativen und Richtigstellungen arbeiten.

Dr. Andreas Jacobs ist Politik- und Islamwissenschaftler und Leiter der Abteilung Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Konrad-Adenauer-Stiftung. Richard Ottinger wurde am Institut für Katholische Theologie in Osnabrück promoviert und ist Referent für internationalen Religionsdialog in der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Quelle: ntv

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